Zwanzig Windeln gewechselt, drei Tonnen Spielzeug aufgeräumt, Nasen geputzt, Tränen getrocknet, Lätzchen an, Lätzchen ab, Tische gewischt und zu guter Letzt den schreienden Einjährigen so lange herumgetragen, bis seine Mama ihn endlich abholt. Tinnitus und lahmes Kreuz vorprogrammiert.
Erzieherin ist ein toller Beruf. Den ganzen Tag auf dem Spielplatz sitzen und Kaffee trinken, jaja..
Endlich habe ich Feierabend und treffe mich mit meiner Mama, von meinem Bruder und mir „Muddi“ genannt.
Muddi ist 86 und noch ziemlich gut beieinander. Ich bin 61 und gerade gar nicht gut beieinander. Zahnschmerzen plagen mich, aber egal. Muddi geht vor, denn ich bin ja froh, dass ich sie noch habe. Das ist in meinem Alter nicht selbstverständlich.
Muddi hat von ihrer einzig noch lebenden Freundin ein paar Aquarelle geschenkt bekommen, die nun Rahmen brauchen. Im Heim, wie sie selber sagt, sind die Wände noch etwas kahl. Muddi wohnt seit einem halben Jahr in in der Endstation. Ich betone immer, dass es eine Seniorenresidenz ist, das hört sich irgendwie besser an.
Wir treffen uns also im Bilderrahmen-Fachgeschäft. Nach gefühlten drei Stunden haben wir alles gefunden und ich schleppe den ganzen Krempel in meiner IKEA-Tasche zum Heim. Erstmal gibt`s einen entkoffeinierten Kaffee und dann ran an die Arbeit. Ich messe aus, schneide zu, haue Nägel in die Wände. Geschafft. Muddi ist glücklich, ich bin völlig fertig und mache mich auf den Heimweg.
In der Bahn erhole ich mich ein wenig und überlege, ob ich heute noch etwas tun sollte. Ich beschließe, noch in den Supermarkt am nächste Bahnhof zu gehen, um unnützes Zeug zu kaufen. Ich brauche eigentlich nichts, aber was soll ich schon zu Hause? Mein 20-jähriger Sohn ist von zu Hause ausgezogen und lässt sich sowieso nicht mehr blicken und ein Kerl wartet auch nicht auf mich.
Ich gehe also durch den Bahnhof. Menschenmassen strömen aneinander vorbei, Corona ist anscheinend kein Thema mehr. Unten an der Treppe, genau in der Mitte, mit dem Rücken zu mir, sehe ich einen Rollstuhlfahrer. Er regt sich nicht und hängt irgendwie schief in seinem Rolli. Was wohl mit dem los ist?
Ich gehe erstmal in den Supi, um mein unnützes Zeug zu kaufen. Auf dem Rückweg hängt der Besagte immer noch leblos in seinem Gefährt. Kein Mensch beachtet ihn und ich denke: alles feige Ignoranten. Scheiße, ich gehöre auch dazu, schießt es mir durch den Kopf. Nach ein paar Metern checke ich kurz die Lage. Maske habe ich sowieso auf, aber ich brauche ein Paar 1x-Handschuhe, falls ich Erste Hilfe leisten muss. Also bitte ich die Verkäuferin vom Brot-Shop um die Handschuhe, streife sie über und gehe zu dem Hilfebedürftigen.
Ich rechne mit dem Schlimmsten, spreche ihn aber beherzt an. Ist mit Ihnen alles in Ordnung, brauchen Sie Hilfe? Von unten sieht er mich mit einem schiefen, irren Blick durch seine dicke Brille an und meint: Ich brauch nur Feuer. Erst jetzt entdecke ich einen fetten Joint zwischen seinen Wurstfingern. Ich bin irgendwie erleichtert. Mit meinen behandschuhten Fingern ist es gar nicht so einfach, das Feuerzeug an zubekommen. Als es endlich klappt, zieht der Hilfebedürftige ordentlich und der Joint ist an.
Ich erkundige mich nochmal, ob wirklich alles in Ordnung ist und er fragt, ob ich ihn noch ein bisschen herumfahren würde. Nee, sag ich, Alter, ich wollte nur gucken, ob du noch lebst und wünsche ihm noch einen schönen Abend. Der Brot-Shop Verkäuferin berichte ich im Vorbeigehen noch schnell, dass der Typ wohl keine weitere Hilfe benötigt. Das scheint sie aber nicht sonderlich zu interessieren.
Zu Hause angekommen, schenke ich mir ein Glas Rotwein ein und denke: So ein Joint wäre jetzt auch `ne feine Sache.
© Gunda Choinka, 2021